Paul Seger: «Der freie Zugang zum Meer bleibt für die Schweiz gewährleistet»

Der Zugang der Schweiz zum Meer ist doppelt gesichert, erläuterte Paul R. Seger, Chef der Schweizerischen Delegation bei der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR) in seinem Referat vor der Parlamentarischen Gruppe Schifffahrt in Bern am 15. Juni 2023. Nachstehend Auszüge daraus:

 Zum einen geschieht die Sicherung durch die Mannheimer Akte von 1861, aber es gebe auch eine andere Garantin, nämlich die UNO-Seerechtskonvention UNCLOS, der die Schweiz 2009 beigetreten ist. Diese besagt: «Die Binnenstaaten haben das Recht auf Zugang zum und vom Meer […]. Zu diesem Zweck geniessen die Binnenstaaten die Freiheit des Transits durch das Hoheitsgebiet der Transitstaaten mit allen Verkehrsmitteln.»

Auch ohne die Mannheimer Akte wäre die Schweiz dank der UNCLOS der Zugang zum Meer garantiert. Aber –  so Seger – jetzt komme das Kleingedruckte: «Sie müsste ‘die Umstände und Einzelheiten für die Ausübung der Transitfreiheit’ mit den Transitstaaten, im konkreten Fall wohl mit der EU, vereinbaren. Damit ist klar: Wir können uns als Binnenland drehen und wenden wie wir wollen. Wir kommen um die EU nicht herum. Auch nicht bei der Rheinschifffahrt.»

Wie aber steht es mit der Zukunft der Mannheimer Akte und der ZKR? Diese Frage ist laut Seger für die Schweiz von grosser Bedeutung: «Die Bedeutung des Rheins als Nabelschnur der Schweiz zum Meer brauche ich nicht zu erklären. Die Stichworte sind: Landesversorgung, Wohlstand, Arbeitsplätze. Rund 10% aller Einfuhren erfolgen über den Rhein. Bei den Mineralölen sind es rund 30%. Die schweizerischen Rheinhäfen bilden einen wichtigen Wirtschaftsfaktor, bei der Flusskreuzschifffahrt ist die Schweizer Flotte ganz vorne mit dabei.» Damit die Rheinschifffahrt für die Schweiz eine Zukunft habe, müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein: 

Der freie Zugang zum Meer,
Gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Rechte für die Schweizer Flotte und Schweizer Personal bei der Zulassung und den Verkehr auf dem Rhein und den europäischen Binnenwasserstrassen,

Die volle Beteiligung und Einflussnahme in den Entscheidungsgremien über Rheinschifffahrtsregeln unter gleichwertiger Anerkennung für die Schweiz.

Die Mannheimer Akte und mit ihr die ZKR garantieren diese Voraussetzungen. Deshalb habe der Bundesrat Ende 2022 erneut bekräftigt, dass die ZKR für die Schweiz das entscheidende Gremium für die Sicherung des Einflusses im Bereich der europäischen Binnenschifffahrt bleibt. Deshalb – so Seger – beschäftige das Verhältnis ZKR-EU die Schweiz schon seit langem und die Kompetenzstreitigkeiten nähmen zu: «Die EU-Kommission betrachtet den Rhein als Bestandteil ihrer Verkehrspolitik und beansprucht zunehmend regulatorische Kompetenzen in Zuständigkeitsbereichen der ZKR. Für die vier EU-Mitglieder der ZKR wird es zunehmend schwieriger, den Spagat zwischen ZKR-Autonomie und EU-Solidarität zu meistern. Dabei scheut sich die EU-Kommission nicht, den EU-Mitgliedern in der ZKR mit Vertragsverletzungsverfahren anzudrohen.» Ein exemplarisches Beispiel für einen solchen Konflikt sei die jüngste Kontroverse um Rheinschifferpatente, also die «Führerausweise» für die Schiffsbesatzungen gewesen. Obwohl sich die ZKR und die EU-Kommission auf inhaltsgleiche Vorschriften geeinigt hätten, wollte die EU-Kommission auf dem Gebiet der EU nur das Unions-Zeugnis gelten lassen. «Dies hätte zur absurden Konsequenz geführt, dass das gleichlautende ZKR-Patent nur auf den rund 4 km Rheinstrecke bis zur Schweizer Grenze gegolten hätte. Im EU-Rat konnten die europäischen ZKR-Mitglieder zum Glück die parallele Anerkennung beider Zeugnisse auf dem ganzen Rhein durchsetzen. Aber der Vorfall hinterliess Spuren. Die Bereitschaft, stets neue Auseinandersetzungen mit der EU-Kommission auszufechten, sinkt.»

Zur Frage «Wie soll es also weitergehen?» nannte der Schweizer Botschafter drei Überlegungen:

1) Es ist Zeit für eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses ZKR-EU. Fallweises "Duchwursteln" bringe nichts.

2) Es brauche einen kollektiven Willen der ZKR-Mitgliedstaaten, die Regelungsautonomie der Zentralkommission aufrecht zu erhalten. Die Schweiz werde dies allein nicht bewerkstelligen können.

3) Europäische Harmonisierung der Binnenschifffahrtsregeln und ZKR-Regelungsautonomie widersprechen sich nicht. Mit gutem Willen und Bereitschaft zu Pragmatismus seien konstruktive Lösungen möglich. Schon heute würden viele Regeln im Binnenschifffahrtsbereich im Europäischen Ausschuss für die Ausarbeitung von Standards im Bereich der Binnenschifffahrt, kurz CESNI genannt, ausgearbeitet. Dieser Ausschuss existiert seit 2015 und ist der ZKR angegliedert. Dem CESNI gehören Sachverständige der Mitgliedsstaaten der EU und der ZKR sowie Vertreter/innen weiterer internationaler Organisationen der Binnenschifffahrt an. Stimmberechtigt sind jedoch nur die Mitgliedstaaten der EU und der ZKR. Die Beschlüsse des CESNI werden nach dem Einstimmigkeitsprinzip gefällt.

Aktuell fänden unter den ZKR-Mitgliedern strategische Diskussionen über die Zukunft der ZKR statt. Ein Vorschlag laute, dass die ZKR einseitig und freiwillig auf ihre Rechtsetzungskompetenzen verzichtet, wo die EU-Kommission ihre Zuständigkeit geltend macht. Damit würden zwar die leidigen Kompetenzstreitereien auf eine einfache Weise beendet. Verliererin wäre allerdings die ZKR, warnte Seger: «Ich habe meinen Kollegen in der ZKR deshalb klargemacht, dass dieses Szenario für die Schweiz ein ‘No Go’ wäre. Denn sie müsste in wichtigen Bereichen des Rheinschifffahrtsrechts auf ihre Mitsprache verzichten und EU-Recht übernehmen. Zudem hätte sie selbst bei einem autonomen Nachvollzug der EU-Regeln keine Gewissheit, dass die EU ihre Regeln anerkennt und damit der Schweizer Rheinflotte den uneingeschränkten Zugang zum Rhein weiter gewährt.»

Viel besser sind die Zukunftsperspektiven, wenn wir ein «modus vivendi» zwischen der ZKR und der EU finden, der die Regeln EU-konform harmonisiert, aber den Parallelismus der beiden Rechtsetzungssysteme beibehält. Wie ich vorhin erwähnte, werde schon heute die massgeblichen Standards gemeinsam im CESNI ausgearbeitet und anschliessend mittels ZKR-Reglemente bzw. in EU-Verordnungen formalisiert und umgesetzt. Wie der Bundesrat in der schon zitierten Antwort auf das Postulat Janiak festhält, ist eine gesamteuropäische Vereinheitlichung der Binnenschifffahrtsregeln grundsätzlich zu begrüssen, nicht zuletzt um auch der Schweizer Schifffahrt den uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zum gesamten europäischen Wasserstrassennetz zu erhalten. Laut gedacht könnte also ein "modus vivendi" Szenario etwa wie folgt aussehen:

In einer gemeinsamen Grundsatzerklärung oder Vereinbarung bekräftigen die ZKR-Mitglieder und die EU ihr gemeinsames Interesse an einer gesamteuropäischen Harmonisierung der Binnenschifffahrtsregeln mit dem CESNI als dem zentralen Organ zur Ausarbeitung der Standards.

Die ZKR anerkennt den Grundsatz, dass das Binnenschifffahrtsrecht inhaltlich EU-konform auszugestalten ist, wo die EU-Normen anwendbar sind. 

Die EU ihrerseits anerkannt die fortbestehende Parallelität der EU- und der ZKR-Normen auf dem gesamten Rheingebiet und damit auch die Gleichwertigkeit beider Systeme. Zudem erklärt sie sich bereit, ihre Koordinierungsverfahren möglichst speditiv abzuschliessen, um das bis dato schleppende Vorgehen zu beschleunigen.

Nach meinem Dafürhalten wäre dieses Szenario nach heutigem Stand der Dinge eine solide und tragfähige Lösung. Sie setzt allerdings auf beiden Seiten guten Willen und Pragmatismus voraus.

Andernfalls ist das Aufgehen der ZKR in eine noch zu definierende EU-Struktur ein mögliches Szenario, das sich mittelfristig abzeichnen könnte. Dies wäre dann der Fall, wenn sich keine dauerhafter "modus vivendi" mit der EU erzielen lässt und die EU-Staaten innerhalb der ZKR die Notwendigkeit einer Einigung mit der EU stärker gewichten als die Autonomie der ZKR. Für die Schweiz wäre dies selbstredend kein Wunschszenario. Das primäre Ziel bleibt, eine Lösung mit der EU zu finden, welche den dauerhaften Fortbestand der ZKR als Regelungsbehörde garantiert. Ich plädiere allerdings dafür, sich mit allen Szenarien nüchtern und sachlich auseinanderzusetzen, ohne in Schnappatmung oder Schreckstarre zu verfallen. Institutionen sind dazu da, damit wir darin unsere Interessen vertreten können. Fokussieren wir uns also auf unsere wesentlichen Anliegen und Inhalte: den freien Zugang zum Meer, gleichberechtigte, diskriminierungsfreie Verkehrs-, Zugangs- und Transitrechte für die Schweizer Flotte und eine volle Beteiligung und Einflussnahme in den Entscheidungsgremien über Rheinschifffahrtsregeln unter gleichwertiger Anerkennung für die Schweiz.

Dies ist nicht unmöglich, betonte Seger in seinem Schlusswort: «Persönlich bin ich zuversichtlich, dass wir Lösungen finden werden, welche diese Parameter erfüllen. Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, dass ich gemeinsam mit der sehr kompetenten und engagierten Schweizer ZKR-Delegation mit aller Kraft darauf hinarbeiten werde.»

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