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30. April 2025In Iffezheim und in Müden: «Schlendrian lässt sich nicht wegregulieren»
In letzter Zeit häufen sich Meldungen über Havarien, die auf den Einsatz automatisierter Navigationshilfsmittel zurückzuführen sind. Beispiele sind die Unfälle an den Schleusen Iffezheim am Rhein und Müden an der Mosel, welche erhebliche Sachschäden verursacht haben. Dies schadet dem Sicherheitsimage der Binnenschifffahrt. Roland Blessinger hat im SVS-aktuell mehrfach über die automatisierte Binnenschifffahrt berichtet. Es ist Zeit nachzufragen: Was läuft hier schief?

Roland Blessinger ist Mitglied der Geschäftsleitung der Schweizerischen Rheinhäfen und vertritt die Schweiz als Sachverständiger in verschiedenen Ausschüssen und Arbeitsgruppen der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt (ZKR). Unter anderem engagiert er sich im Kleinen Schifffahrtsausschuss, in dem unter anderem die automatisierte und ferngesteuerte Binnenschifffahrt behandelt wird. 2019 leitet er eine europäische Arbeitsgruppe mit dem Ziel, Vorschläge für Mindeststandards von Spurführungsassistenten (TGAIN) in der Binnenschifffahrt zu erarbeiten.
SVS-aktuell: 2023 und 2024 sind zwei Schiffe ungebremst mit geschlossenen Schleusentoren kollidiert. Was ist hier genau passiert, beziehungsweise warum passierte es?
Beim Unfall in Iffezheim wird davon ausgegangen, dass jemand aus der Schiffsbesatzung eines Gütermotorschiffs mit eingeschaltetem Spurführungsassistenten (TGAIN) in das Obertor der Schleuse gefahren ist. Aus dem Gerichtsurteil geht hervor, dass die Überwachung des Systems unzureichend gewesen ist.
Bei der Schleuse Müden liegt noch kein Urteil vor. Wenn man Fachzeitungsberichten Glauben schenkt, bestätigt ein Gutachten, dass Ruder und Maschine intakt gewesen und das Schiff mit eingeschaltetem „Autopilot“ in das Schleusentor gefahren ist. Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass hier ein klassischer Autopilot – das ist ein Wendegeschwindigkeitsregler – verwendet worden ist. Vielmehr gehe ich davon aus, dass auch dieses Schiff mit einem aktivierten TGAIN-System – und zwar ohne ausreichende Überwachung – gesteuert worden ist.
SVS-aktuell: Sie haben 2019 als Vorsitzender der TGAIN-Arbeitsgruppe einen Runden Tisch mit Vertretern des Gewerbes, der Behörden und der Hersteller in Bonn organisiert. Hätte man solche Schleusenunfälle besser vorhersehen und durch Mindeststandards verhindern können?
Die ZKR-Arbeitsgruppe RIS (River Information Services), die ich 2018 als Vorsitzender leitete, hatte den Auftrag, Vorschläge zu Mindeststandards für den Einsatz von Spurführungsassistenten zu erarbeiten. Der Runde Tisch 2019 in Bonn ist der Startpunkt gewesen. Damals hat es keinen Widerstand gegen eine Regulierung gegeben – im Gegenteil. Besonders die Hersteller haben Rechtssicherheit gefordert. Ich befürchte jedoch, dass diese Unfälle selbst mit in Kraft gesetzten Mindeststandards und Polizeiregeln für TGAIN passiert wären. Denn Schlendrian lässt sich leider nicht wegregulieren.
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SVS-aktuell: Was meinen Sie mit Schlendrian?
Hätte die Schiffsbesatzung auch die heute schon geltenden Regeln eingehalten, hätten diese Unfälle nicht passieren dürfen. Das zeigt deutlich, wo wir ansetzen müssen.
SVS-aktuell: Wo genau?
Technisch funktioniert TGAIN einwandfrei. Der technische europäische Standard (ES-TRIN) wird entsprechend angepasst und bietet zukünftig den Herstellern damit die geforderte Planungssicherheit. Regulatorisch arbeitet die ZKR-Arbeitsgruppe Polizeiverordnung an einem neuen Paragrafen zum Thema TGAIN. Ebenso werden im Befähigungsstandard (ES-QIN) die heutigen und zukünftigen Navigationsmittel berücksichtigt. Diese Massnahmen bilden einen wichtigen Rahmen für die Sicherheit. Der Mensch als Faktor wird jedoch zu wenig gewichtet.
SVS-aktuell: Können Sie das näher erläutern?
Wir befinden uns mitten in einem Transformationsprozess. Navigationsmittel werden technisch immer leistungsfähiger und kommunizieren zunehmend interoperabel mit anderen Systemen. Ziel ist eine einheitliche, zuverlässige Navigationsunterstützung. Diese technische Entwicklung schreitet sehr schnell voran – schneller als die juristisch-formale Regulierung Schritt halten kann. Doch was passiert gleichzeitig an Bord.
SVS-aktuell: Dort profitieren doch alle von besserer Navigation. Die Schifffahrt wird sicherer.
Sind Sie sicher? Ich sehe das etwas anders – vielleicht provokativ. Die Rheinschifffahrt hat sich fast 100 Jahre lang kaum verändert. Erst in den letzten zehn Jahren haben sich die technischen Systeme im Steuerhaus, insbesondere die interoperablen Anwendungen, rasant weiterentwickelt.
Gleichzeitig hat sich die Qualität im Umgang mit diesen Navigationsmitteln, bei der Regelkenntnis und der Weitergabe von Erfahrungswissen spürbar in Halbwissen verändert. Die älteren Schiffsführer können noch bei Nacht und guter Sicht ohne Radar oder elektronische Karte fahren und wissen jederzeit, wo sie sich befinden. Bei Niedrigwasser fahren sie vorausschauend – und nicht einfach in der Flussmitte. Ein Fernseher im Steuerhaus? Undenkbar. Der Film spielt draussen – dort, wo die Verantwortung liegt.
Doch der sogenannte „interoperable Helfer“ kann auch stressen – oder er funktioniert so gut, dass man sich blind darauf verlässt, ohne sich bewusst zu machen, dass die Verantwortung letztlich immer noch beim Menschen bleibt. Die ganze Digitalisierung im Steuerhaus ist kein Selbstzweck. Sie ist ein Mittel – und der Zweck ist klar: der Mensch an Bord, seine Sicherheit und seine Verantwortung.

Anfahrt Obertor Schleuse Iffezheim: Im November 2023 hatte ein Frachtschiff ein Schleusentor in Iffezheim stark beschädigt.
SVS-aktuell: Was soll man aus Ihrer Sicht dann tun?
Es ist ein Appell gegen das Wegschauen bei Versäumnissen der letzten Jahre. Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass alle – ob mit oder ohne moderne Systeme – wissen, wie sie sich korrekt an Bord zu verhalten haben. In den nächsten zehn Jahren werden viele erfahrene Kräfte aus dem Berufsleben ausscheiden. Diese Erfahrungs-Lücke müssen wir rechtzeitig schliessen.
SVS-aktuell: Sehen Sie die Automatisierungswelle also kritisch?
Nicht grundsätzlich. Technisch und regulatorisch wird man die Automatisierung inklusive Fernsteuerung auf ein hohes Niveau bringen können. Die Beantwortung der Frage über die Rolle des Menschen wird vermutlich herausfordernder sein. Denn hinter jedem System steht schliesslich immer noch ein Mensch, der Kurs und Geschwindigkeit überprüft und verantwortet – auch wenn es einmal höhere Automatisierung geben wird. Und genau dafür müssen wir den Menschen fit machen, sowohl in der Ausbildung als auch in der Weiterbildung.
Ein Schiff bewegt sich in einem dynamischen Umfeld mit wechselnden Strömungsgeschwindigkeiten, Brücken und Schleusen. Die Rheinschifffahrt ist für die Schweiz zu bedeutend, als dass wir hier mit unausgereiften Experimenten spielen dürften. Die WALDHOF-Havarie hat gezeigt, was geschieht, wenn die Schifffahrt vier Wochen stillsteht.
SVS-aktuell: Es mussten nationale Reserven angezapft werden.
Genau. Das Bewusstsein sollte gestärkt werden, wie wichtig eine funktionierende Rheinschifffahrt ist. Im Gegensatz zu Strasse und Bahn kann die Binnenschifffahrt auch bei einem Blackout oder Cyberangriff Transportleistungen erbringen. Nämlich weil ein Schiff als Insellösung funktioniert. Dafür braucht es aber Menschen, die manuell navigieren können, Schleusen, die auch in Notfällen funktionieren, und einen dauerhaften Wasserstrassenunterhalt.
SVS-aktuell: Kommen wir abschliessend zurück zu den Unfällen in Iffezheim und Müden.
Diese Ereignisse lassen sich auf einen Punkt bringen: Wir sehen, was geschieht, wenn die Qualität der Aus- und Weiterbildung an Bord nicht stimmt oder mit der Innovation nicht nachkommt. Und wir erleben die Folgen, wenn Schleusen ausfallen. Beide Aspekte müssen künftig stärker in den Fokus rücken!
SVS-aktuell: Bei der Infrastruktur wie Schleusen oder dem Wasserstrassenunterhalt ist das nachvollziehbar. Was meinen Sie konkret mit der Aus- und Weiterbildung?
Wir haben gesehen, welche Auswirkungen es hat, wenn eine Schleuse beschädigt wird. Der Effekt ist derselbe, ob nun ein Schiff durch menschliches Fehlverhalten oder durch mangelnden Unterhalt der Infrastruktur ausfällt: Die Schifffahrt wird beeinträchtigt oder gar zum Stillstand gebracht. Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern.
Während sich die Infrastruktur mit politischem Willen, planerischen Kapazitäten und ausreichenden Ressourcen instand halten lässt, sind nautische Fachkräfte schwieriger zu ersetzen. Gesucht sind Menschen, die mit den heutigen Navigationsmitteln souverän umgehen können – und gleichzeitig den Spagat zwischen hochautomatisierter und manueller Schifffahrt meistern.
In Zukunft wird nicht die Quantität, sondern die Qualität der nautischen Fachleute entscheidend sein. Hier ist die Branche gefordert! Einige Reedereien haben das erkannt und investieren bereits massiv in die Aus- und Weiterbildung. Der Beruf des Kapitäns in der Binnenschifffahrt gewinnt damit deutlich an Bedeutung.
SVS-aktuell: Sehen Sie also keine Entlastung durch Fernsteuerung und Automatisierung?
Es geht, wie gesagt, nicht mehr um Quantität, sondern um Qualität. Reedereien, die glauben, künftig (Personal)kosten einsparen zu können, könnten sich täuschen – trotz automatisierter Binnenschifffahrt.
SVS-aktuell: Was ist ihr Fazit daraus?
Die Unfälle in Iffezheim und in Müden machen deutlich, was auf dem Spiel steht: Die Qualität der Aus- und Weiterbildung an Bord und die Funktionsfähigkeit der Infrastruktur sind zentrale Voraussetzungen für eine sichere, zuverlässige Binnenschifffahrt im Zeitalter der Automatisierung. Die Aus- und Weiterbildung muss mit der Innovation an Bord mithalten. Nicht zuletzt müssen wir auch Leute gewinnen, die den Job an Bord in Zukunft auch machen wollen und können. Und, ich wiederhole mich zwar dabei, aber Schlendrian lässt sich nicht wegregulieren.
Roland Blessinger verfasste gemeinsam mit EDINNA (Education in Inland Navigation) eine Broschüre über den Einsatz von Spurführungsassistenten in der Binnenschifffahrt (TGAIN). Die Broschüre wurde im April vom CESNI-Ausschuss genehmigt und steht ab Mitte Mai kostenlos auf der CESNI-Website zum Download bereit: